Newsletter 030 Sommer (2019)

Von Brupbacher zu Raygrodski



Veröffentlicht am: 14.08.2019

Wiedikons hipster Platz ist nach einem anarcho-syndikalistischen Arzt benannt – nun erhält auch seine Frau öffentliche Anerkennung.

Pete Mijnssen (Text und Bild)


Die ergänzte Tafel am Brupbacherplatz

 

Genau zehn Jahren ist es her, seit keine Lastwagen mehr um die Kurve an der Ecke Sihlfeld-/ Weststrasse brausen. Stattdessen steht dort ein verkehrsberuhigtes Dreieck, der Brupbacher-Platz. Dieser ist nach dem Zürcher Ärztepaar Fritz Brupbacher und Paulette Goutzait-Raygrodski benannt. Wo heute die halbe Stadt für ein Glacé der Gelateria da Berna ansteht oder in der Raygrodski-Bar einen Drink schlürft, befindet sich also auch ein Ort der Erinnerung.

Der Arzt Fritz Brupbacher und sein Einsatz für die Armen und Arbeiter sind bekannt. Bisher weniger im öffentlichen Bewusstsein war die Rolle seiner Frau, der Sexualreformerin Paulette Raygrodski. Dabei konnte sie ihrem Ehemann durchaus das Wasser reichen. Der Historiker Karl Lang beschreibt sie als «lebensfrohe Russin mit zwei Doktorhüten». 1902 zum Studium in die Schweiz gekommen, liess sie sich später von ihrem ersten Ehemann Aron Raygrodski scheiden, behielt aber dessen Namen. In Zürich lernte sie Fritz Brupbacher kennen und wurde 1924 dessen dritte Ehefrau. Das Ärztepaar aus dem anarcho-syndikalistischen Umfeld mischte in den 1920er Jahren das linke Milieu in Aussersihl (zu dem damals auch Wiedikon gehörte) auf. Paulette engagierte sich insbesondere für den freien Zugang zu Verhütungsmitteln, für das Recht auf Abtreibung, Sexualaufklärung und die Liberalisierung des Eherechts. Unerhörte Töne für damals.

In Anerkennung dieser Rolle ergänzte die Strassenbenennungskommission der Stadt die Tafel im vergangenen April mit den Verdiensten der revolutionären Ärztin. Zuvor hatte es zwei gegeben: eine auf dem Hauptplatz mit Fritz Brupbacher und eine kleinere beim Kinder-Spielplatz mit Paulette Raygrodski. Jetzt sind die Tafeln getauscht. In einem Postulat fordern Gemeinderäte und Gemeinderätinnen nun, dass in Zukunft noch mehr Orte Frauennamen erhalten; von den 450 Strassen, die in Zürich nach Prominenten benannt sind, tragen nur 54 einen weiblichen Namen. Der «neue» Brupbacherplatz ist ein Beispiel dafür, wie es gehen könnte.

 



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Ausgekegelt



Veröffentlicht am: 14.08.2019

An der Schmiede Wiedikon schliesst das Kegelzentrum Schmiedhof – immer weniger Leute üben den Sport aus.

Stefan Claudio (Text und Bild)


Christine und Walter Jurt, die ehemaligen Betreiber des Kegelzentrums Schmiedhof

Auch wer schon länger im Quartier wohnt, stolpert über Trouvaillen, von denen er erst erfährt, wenn es schon zu spät ist. Eine solche befand sich bis vor kurzem im 2. Untergeschoss des privaten Altersheims Schmiedhof, vis-à-vis des Polizeipostens an der Schmiede Wiedikon.

Während gut 13 Jahren führte hier das Ehepaar Jurt das Kegelcenter Schmiedhof. Ursprünglich als Stammlokal des kantonalen Kegelverbandes gegründet, fanden unzählige Schweizermeisterschaften im Sportkegeln statt, da die sechs Bahnen reglementkonform waren, was auf Stadtgebiet heutzutage eine Rarität ist. Auch Firmen und Privatpersonen besuchten das Lokal, das über eine Küche, eine Bar und Sitzgelegenheiten für Gesellschaften bis 50 Personen verfügte.

Obwohl Christine und Walter Jurt betonen, dass die Ursprünge des Lokals als Kegelbahn bis in die sechziger Jahre zurückreichen, blieb der Kegelclub bis zum Schluss im Quartier so gut wie unbekannt. Auch mehrmalige Werbeaktionen, unter anderem in Zusammenarbeit mit dem Quartierverein Wiedikon, konnten daran nichts ändern. Die Besucherschaft rekrutierte sich nach wie vor primär aus Personen, die ausserhalb des Quartiers oder sogar der Stadt wohnten.

Sportkegeln gehört dabei zu jenen Sportarten, die immer seltener ausgeübt werden. So schrumpfte der Mitgliederbestand des Nationalen Dachverbandes von 8000 Mitgliedern während der Hochzeit in den achtziger Jahren auf gut 1000 Ende 2018. Dies führte dazu, dass über die Jahre weniger und weniger Personen den Weg in das 2. Untergeschoss fanden. Daran änderten auch Versuche, das Lokal und den Sport für jüngere Generationen attraktiv zu machen, wenig. So investierten die Betreiber vor gut 2 Jahren nochmals eine grössere Summe, tauchten zwei Bahnen in UV-Licht und liessen einen Graffiti-Künstler ein Paintbrush-Bild an die Wand zaubern. Ohne Erfolg.

Dazu kamen andere Faktoren wie das Rauchverbot, welches zu einem Rückgang der Besucherzahlen um die Hälfte führte. So fällten Jürg und Christine Jurt vor einem Jahr den schweren Entschluss, das Lokal per Ende Juli 2019 zu schliessen. Ein letztes Mal fanden bei hochsommerlichen Temperaturen die kantonalen Meisterschaften im Kegeln statt.

 



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Wiedikon verliert eine Ikone



Veröffentlicht am: 14.08.2019

Der Fotoautomat an der Goldbrunnenstrasse ist weg – er hat uns zahllose schöne Stunden bereitet.

Ivo Mijnssen (Text), Daniela Hemmi (Bild)


Der Fotokasten an der Goldbrunnenstrasse ist weg

 

Eigentlich ist es ja ein Wunder, dass er so lange überlebt hat. Doch nun ist er endgültig weg, der Fotoautomat an der Goldbrunnenstrasse 123. Geblieben ist lediglich die Erinnerung mehrerer Generationen an ihn. Meine eigenen ersten schwarz-weissen Fotostreifen stammen aus den späten achtziger Jahren, bis heute füllen sie ganze Schachteln. Sie zeigen kindische Grimassen, angestrengte Coolness, doofe Hüte und Kostüme, Blödeleien und Ernsthaftigkeit. Bis zu vier Leute haben wir jeweils in die Kabine gequetscht, meine Freunde, meine Frau, den Neffen und die Nichte – und sogar einen Basset Hound. Lustig fanden es alle, vielleicht mit Ausnahme des Hundes.

Während wir erwachsen wurden und seltener hingingen, folgten andere nach. Die Leute, die vor dem Automaten standen, um für den unschlagbar günstigen Preis von einem Franken viermal geblitzt zu werden, waren ein Querschnitt des (mehr oder weniger jungen) Quartiers. Bis zuletzt kamen die Teenager nach Schulschluss und an den Wochenenden, warteten auf die Fotoschlange, berührten den von der Entwicklungsflüssigkeit nassen, leicht nach Schwefel riechenden Streifen und hielten ihn zum Trocknen in den Wind. Geruchsneutrale digitale Automaten sind dagegen stinklangweilig.

Doch nun gibt Martin Balke auf, der Mann, der 1967 mit der Produktion dieser Automaten begonnen hatte. Er verkauft das Haus neben dem Automaten – ein Haus, in dessen Keller zumindest früher ganze Tanks mit seltsamen Foto-Flüssigkeiten lagerten. In einem Sommer habe ich einmal einige Tage dort gearbeitet – und danach gestunken wie die Fotostreifen. Irgendwann komme der Moment, an dem man sich von Dingen trennen müsse, erklärt der 85-Jährige dem «Tages-Anzeiger».

Nun soll aber keiner sagen, Balke sei der Abschied leicht gefallen: Bereits vor vielen Jahren hiess es, der Automat sei am Ende, da die Fotostreifen dafür gar nicht mehr produziert würden. Doch Balke fand einen Weg und hielt ihn für Wiedikon am Leben – als letzten seiner aussterbenden Art. Dass man ähnliche Geräte nur noch im Museum betrachten kann, sagt alles.
Dennoch: Die beiden haben sich den Ruhestand verdient, auch wenn wir den alten Kasten vermissen werden. Und Herrn Balke können wir nur danken, für die vielen Jahre, in denen er allen Kindern, Jugendlichen und Kindsköpfen im Quartier schöne Stunden bereitete.

 



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Gartensaison im Schülergarten



Veröffentlicht am: 14.08.2019

Im Schülergarten Aemtler lernen die Schüler den biologischen Gartenbau kennen, doch das Hobby-Gärtnern liegt auch bei den Erwachsenen im Trend.

Hannes Weber (Text), Pete Mijnssen (Bild)


Gärtnern boomt, auch beim Aemtler-Schulhaus

 

Seit den siebziger Jahren führt die Gesellschaft für Schülergärten beim Schulhaus Aemtler jedes Jahr Kurse im biologischen Gartenbau durch. Sie richten sich an Kinder von der zweiten bis zur vierten Klasse, beginnen im Frühling und dauern bis zu den Herbstferien. Die Kleinen säen und bepflanzen ihr eigenes Beet – und lernen nebenbei die Zusammenhänge in der Natur kennen. Was sie anbauen, dürfen sie mit nach Hause nehmen: Gemüse, Kräuter und Blumen. Im Garten wohnen auch Hühner, die Eier legen.

«Für die Kinder ist die Zeit, die sie im Garten verbringen, ein spezielles Erlebnis. Besonders schön ist es, wenn es etwas zum Ernten gibt», erklären die beiden Gartenleiterinnen Doris Allrich und Erika Grava, die dieses Jahr neu zum Team gestossen sind; Nathalie Lerch-Pieper und Katrin Meyer engagieren sich schon seit Jahren im Garten. Von ihren Vorgängerinnen haben sie einiges gehört: «Früher gab es Einbrüche ins Gartenhaus, und die Urnengräber am Rand des Gartens wurden auch mal als kleiner Drogenumschlagsplatz benutzt.» Dann wurde der Weg zum Garten beleuchtet, und die Polizei war häufiger vor Ort. «Gemüseklau» hingegen war im Schülergarten Aemtler nie ein grosses Problem, denn er ist mit einem Zaum umschlossen.

Der Trend zum Gärtnern hat dazu geführt, dass die Anmeldungen für alle Stadtzürcher Gartenkurse in den letzten Jahren deutlich gestiegen sind. Den Grund sieht man dort in der grünen Welle, welche die ganze Gesellschaft erfasst und die Eltern sensibilisiert habe. Die Schülergärten führen auch spezielle Eltern-Kind-Kurse im Garten «Klopstock» durch.

Doch das Hobby-Gärtnern liegt auch bei Erwachsenen im Trend. Grund dafür ist wohl, dass der Alltag immer hektischer wird. Viele sitzen stundenlang bei der Arbeit vor dem Computer.
Der Garten wird so zu einem Ort der Ruhe. In der Freizeit möchten viele aber auch etwas mit den Händen schaffen. Gesundheit und Ernährung haben einen höheren Stellenwert erhalten. Die Häufung von Lebensmittelskandalen haben das Misstrauen gegenüber der industriellen Produktion von Lebensmitteln erhöht und das Bedürfnis nach regionalen und saisonalen Produkten verstärkt. Wissenschaftliche Studien belegen auch, dass Menschen, die gärtnern, gesünder und entspannter sind.

Das Gärtnern erfüllt so nebenbei auch therapeutische Zwecke. Und es zeigt ein konkretes Resultat: Wer Gemüsesetzlinge pflanzt und sie pflegt, bekommt etwas Leckeres und Gesundes zurück – das wissen auch die Kinder.

Weitere Infos: www.schuelergaerten.ch

 



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Das Schulzimmer mit der Zirkusmanege getauscht



Veröffentlicht am: 14.08.2019

Anfang Juli war der Circolino Pipistrello in der Primarschule Aemtler zu Gast, Kinder und LehrerInnen tauchten in die magische Zirkuswelt ein.

Pete Mijnssen (Text), Lilian Hurschler (Bild)


Der Circolino Pipistrello zu Gast in der Schule

Der Wunsch, den Mitmachzirkus Pipistrello in der Primarschule Aemtler zu haben, wuchs aus dem Team. Der Startschuss erfolgte bereits vor zwei Jahren mit einer Anfrage ans Pipistrello-Team und der Bildung eines Organisationskomitees.

Am 1. Juli war es dann endlich soweit: 270 Kinder aus der Unter- und Oberstufe konnten zwischen Manegenarbeit und Kursen in den 14 Ateliers wählen, die von Lehrpersonen und BetreuerInnen angeboten wurden. Die Kindergartenkinder hatten ebenfalls die ganze Woche Zirkusprogramm. Interessanterweise hielt sich der Ansturm auf die Manege in Grenzen, wie Co-Schulleiterin Lilian Hurschler, die Hauptverantwortliche fürs Zirkusprojekt, im Gespräch mit dem Quartiernetz erläutert: «Wir hatten uns schon Sorgen gemacht, dass alle Kinder im Zirkus auftreten wollen».

Stattdessen fand jedes Kind seinen passenden Platz und war mit Leib und Seele dabei. So durften etwa am Montagmorgen die 100 Manegekinder beim Zeltaufbau mitanpacken und jeweils am Morgen, bevor das Pipistrello-Team übernahm, ein Zirkuslied einüben. Ab Dienstag wurden alle zum Wochentheater vom Pipistrello-Zirkusteam eingeladen, auch die Atelierkinder und Kindergartenkinder.

Eine Woche «nur Zirkus», bleibt der Lehrplan da nicht auf der Strecke? Ganz im Gegenteil, sagt Hurschler: «Um etwas aufführen zu können, braucht es viele fachliche und überfachliche Kompetenzen. Es braucht Übung und Durchhaltewille, vielleicht ist man mal auf die Nase gefallen, lernt aus Fehlern. Bewegung und Sport, Sprache, Gestalten, Musik – diese Zirkuswoche bot allen Kindern eine Vielfalt von kompetenzorientierten Lerngelegenheiten.» Der Ausbruch aus dem Alltagstrott, die Vermischung der Kinder aus verschiedenen Klassen habe zu einem «enormen Schul-Zusammenhalt» geführt.

Krönender Abschluss war das Zirkusfest am Freitagabend. Da gab es nicht nur die mit Fieber erwartete Aufführung, sondern für Eltern, die im Zelt keinen Platz gefunden hatten, verschiedene Darbietungen draussen und drinnen: Tanz- und Singvorführungen, einen Plüschfigurenzirkus, eine Gorilla-Aufführung, eine grosse Tombola-Verlosung und Attraktionen wie Bauchladenverkauf. Sogar eine eigens verfasste und gedruckte Zirkuszeitung wurde verkauft. Hurschler zieht deshalb auch ein durchwegs positives Fazit: «Die Woche war ein voller Erfolg und wird uns allen in schöner Erinnerung bleiben. Der grosse Aufwand hat sich gelohnt.»

 



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