
Kippunkte - global und lokal
Seit über zwanzig Jahren wohnt der Schreibende in Wiedikon. Und beobachtet dessen Entwicklung kritisch – und mit einem Augenzwinkern.
Stefan Claudio
Damals galt das Quartier als solide und wenig glamourös – eine Art verlässlicher Mittelklassewagen unter Zürichs Stadtteilen. Mit dem Umbau des Idaplatzes und der Eröffnung der Westtangente kam einiges an Veränderung nach Wiedikon.
Der Rest ist Geschichte. Schon damals hatte man schon das Gefühl, Wiedkon sei hip. Mit jedem neuen frischen Frühling mit vielen (jungen) Leuten auf den Strassen unterwegs ging das so weiter, so dass man sich fragt: Wann kippt das Ganze? Wann ist genug genug? Gibt es irgendwann eine Grenze? Wann ist ein Quartier nachhaltig verändert?
Neophyten statt angestammte Flora
In der Klimadebatte sprechen wir von Kippunkten – jenem Moment, wo Systeme unumkehrbar kippen. Schmilzt das Grönlandeis, gibts kein Zurück mehr. Ähnliches passiert schleichend in unserem Quartier, nur dass hier nicht Gletscher schmelzen, sondern Mietverträge.
Die Neophyten sind eingezogen. Gut ausgebildet, gut verdienend, mit Faible für Sourdough-Brot und Natural Wine. Sie bringen Leben ins Quartier: neue Cafés, Galerien, Yoga-Studios. Wiedikon pulsiert. Man könnte sagen: Es blüht. Doch wie bei echten Neophyten verdrängen die Neuankömmlinge die angestammte Flora.
Und auch wenn man einzelne Exemplare von Neophyten gut wieder ausreissen kann, meistens ist der Kampf tendenziell schon verloren bevor er überhaupt richtig begonnen hat.
Bestellung auf Englisch statt Frühfranzösisch
In gewissen Lokalen kann oder muss man mittlerweile auf Englisch bestellen. Immerhin: Das Frühenglisch in der Primarschule erübrigt sich damit für die nächste Generation – die Kids lernens beim Brunch. Bleibt mehr Zeit fürs Französische. Die cohasion federale dankt.
Doch der Preis für diese unfreiwillige Immersion ist hoch: Ein Kaffee kostet fünf Franken, der Small Talk, falls überhaupt vorhanden, kommt ohne Bezug zum Quartier aus.
Der Aufschwung als Abstieg
Der sozio-ökonomische Druck trifft vor allem jene, die schon da waren, als Wiedikon noch nicht cool war. Rentner, langjährige Mieter mit bescheidenem Einkommen, Leute, welche nicht auf Englisch bestellen können – sie erleben den Aufschwung als Abstieg. Ihre Lebenshaltungskosten steigen, ihr Platz schrumpft.
Die Frage ist: Gibt es einen Kippunkt der Gentrifizierung? Einen Moment, wo genug genug ist? Oder ist das System auf ewiges Wachstum programmiert, bis auch der letzte Altmieter weichen muss?
Vielleicht ist die eigentliche Erkenntnis: Kippunkte entstehen nicht plötzlich. Sie sind das Resultat vieler kleiner Entscheide – global wie lokal. Und wenn wir sie erkennen, ist es meist schon zu spät.